Angedacht 4/2022

Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern

Jetzt ist Adventszeit. Adventszeit ist Übergangs-zeit. Adventszeit ist Weg. Adventszeit hat ein Ziel: Weihnachten. - Jesus – und mit ihm Gott selbst – kommen in die Welt. Es ist spannend, auf jemanden zu warten. Je wichtiger die Person ist, auf die wir waren, desto spannender ist diese Zeit. - Zwillinge wurden gleich nach der Geburt ge-trennt. Sie wuchsen in unterschiedlichen Familien auf. Nach 26 Jahren hatten sie den ersten Kontakt miteinander. Sehr behutsam gingen sie aufeinander zu. Zunächst telefonierten sie.

Dann schrieben sie sich Briefe. Schließlich trafen sie sich. Die jungen Frauen erzählten, wie unerträglich die Spannung war, bis sie sich endlich begegnen konnten. Aber wie wichtig es für sie war, sich diese Zeit zu lassen, die Spannung, das „Dazwischen“ auszuhalten.

Auch die Adventszeit ist für Christen Zeit der Erwartung. Das kommt in manchem alten Brauch zum Ausdruck: im Aufstellen eines Adventskranzes; im Backen von Weihnachtsplätzchen, die aber erst an Weihnachten gegessen werden durften; im Schmücken der Wohnung mit Tannengrün und Barbarazweigen, die an Weihnachten in der warmen Stube erblühten. - Dietrich Bonhoeffer schreibt über diese Zeit „spannender Erwartung“, dass in ihr unsere urmenschliche Sehnsucht nach Gott und einer Welt ohne Leid, Trauer und Tod, aber voller Gerechtigkeit, Licht und Leben zum Ausdruck kommt. Bonhoeffer weiter: „Die Sehnsucht, die wir Menschen in uns tragen, ist ein innerer Spannungsbogen. Wenn er nicht aufrechterhalten werden kann und mit billigeren Ersatzfreuden abgekürzt wird, dann ist das der Ruin aller geistigen Fruchtbarkeit." Für Bonhoeffer ist diese Zeit „fruchtbare Zeit“, weil Gott kommt. Das lässt uns nicht in Ruhe. Das schenkt uns schon jetzt Freude. Das lässt uns schon jetzt gegen das Leid aufbegehren und uns jetzt schon für Gerechtigkeit eintreten

Als Student machte ich Sitzwachen im Krankenhaus. Am unerträglichsten war die Stunde vor Sonnenaufgang. Die Nacht lag schon fast hinter uns. Der erlösende Morgen war zum Greifen nah. Er zeigte sich aber noch nicht. Oft stand ich am Fenster und schaute gespannt nach Osten, um erste Zeichen der Morgendämmerung zu erspähen. Dabei kam mir ein Vers aus Psalm 130 in den Sinn. Darin heißt es: Meine Seele wartet auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen; mehr als die Wächter auf den Morgen hoffe Israel auf den Herrn. - Der Apostel Paulus kennt diese Spannung. Er kennt die Unerträglichkeit des „Dazwischen“, unter dem auch seine Gemeinde in Rom zu leiden hat. Deshalb schreibt er folgende ermutigende Worte an sie: „Die Nacht ist vorgedrungen, und der Tag ist nahe herbeigekommen. So lasst uns die Werke der Finsternis ablegen und anziehen die Waffen des Lichts, die uns vor der Finsternis schützen. (Römer 13,12)“

Über diese Verse hat Jochen Klepper ein Lied gedichtet. Darin beschreibt er die Erfahrung: Dunkelheit und mit ihr Trauer, Leid und Angst sind noch gegenwärtig. Noch stehen wir nicht im Licht. Aber die Dunkelheit ist durchbrochen. In sie hinein strahlt „der Stern der Gotteshuld“. Der Stern zeigt uns den Weg aus der Nacht heraus. Schon jetzt dürfen wir dieses Hoffnungszeichen sehen. Ihm wird der helle Tag folgen. Schon jetzt dürfen wir uns freuen. Schon jetzt dürfen wir der Hoffnung Raum in uns geben. Schon jetzt dürfen wir uns vom Licht bestimmen lassen. Schon jetzt dürfen wir die Adventszeit zur fruchtbaren Zeit werden lassen, weil Gott kommt. Darauf dürfen wir uns freuen. Schon jetzt.  - Allen Leserinnen und Lesern der „Brücke“ eine gesegnete Adventszeit und ein frohes Weihnachtsfest.

Ihr Pfarrer Jörg Scheerer